Leseprobe aus »OST-Wärts«
Die Uhr zeigte kurz nach zehn an diesem Vormittag. Die Hände tief in den Taschen seiner »Ein-Strich-kein-Strich« Wattejacke vergraben stapfte Justus Faber durch das verschneite Wohnlager. Den Webpelzkragen der Jacke hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen.
Solch ein Kleidungsstück wie dieses besaßen zumeist nur Leitungskader oder auch Kumpels, die über Beziehungen verfügten. Ursprünglich wurden damit Offiziere der NVA ausstaffiert. Doch auf unbestimmten Wegen, die keiner nachvollziehen wollte, gelangte eine nicht unerhebliche Anzahl davon auch an die Trasse. Sie trugen sich bequemer und schauten vor allem besser aus als die Jacken der gewöhnlichen, allgemei-nen Permbekleidung.
Die Schapka hatte er bis auf die buschigen Augenbrauen hinab in die Stirn gezogen. So blinzelte der große, hagere Enddreißiger für einen kurzen Moment in die Sonne, die erst vor wenigen Minuten aufgegangen war. Sie stand noch dicht über dem bewaldeten Horizont am stahlblauen Him-mel, an dem sich keine Wolke befand.
Unter den Sohlen seiner Filzstiefel knirschten Eis, Schnee und dunkler Streukies. Sein Atem hatte den Schnauzbart bereits nach den wenigen Augenblicken im Freien völlig vereist. Zum wiederholten Male zog er die laufende Nase hoch.
Beim raschen Gehen schaute sich Faber prüfend nach allen Seiten um. Der angewehte Schnee reichte an den Wohnba-racken fast bis zu den Dachkanten hinauf. Nur die freige-wühlten Schneisen zu den Eingängen unterbrachen in re-gelmäßigen Abständen die aufgetürmte weiße Front.
Mit festem Schritt bog Faber nach rechts auf den Weg ab, der direkt zum niedrigen, breit dahingestreckten Raumzel-lenbau des Versorgungsobjektes führte. An das sich wiede-rum die große Marienberger Halle unmittelbar anschloss. Davor befand sich das langgestreckte Areal des Freizeitzent-rums. Hier feierten an warmen Sommerabenden hunderte Kumpels gern bis tief in die hellen Nächte hinein.
Die vielen, selbstgezimmerten Tische und Sitzbänke konnte man derzeitig unter der dicken Schneedecke jedoch nur erahnen. Begrenzt wurde die Fläche linker Hand von der ausladenden Lagerhalle der Versorgung. In deren Aluminiumfassade glänzte grell die aufgehende Sonne. Zudem hingen dort die Reste eines roten Spruchbanners herab. Dieses Transparent, auf dem man einst einen kämpferischen Spruch lesen konn-te, hatte vermutlich der letzte Schneesturm erfolgreich zer-fetzt.
Faber schaute kurz hinüber zu dem Schandfleck, schüttelte den Kopf und schritt weiter auf den Eingang des Versorgungsobjektes zu.
Auch an der langen Front dieses Zweckbaus türmte sich der Schnee bis hoch zu den Traufkanten. Aus den Dachentlüf-tungen des Küchentraktes stieg weißer Dampf in den blan-ken Himmel empor. Es roch nach gebratenem Fleisch.
Der Windfang vor der Eingangstür war fast zur Hälfte unter den Schneemassen verborgen. Beiderseits davon wuchsen vor den Fenstern ebenso, wie entlang der angrenzenden Marienberger Halle armdicke Eiszapfen vom Dach bis in den tiefen Schnee hinab.
Faber wusste natürlich, das heute Abend in der »Marienberger« die Faschingsfeier der Baustelle stattfinden sollte. Einige der Vorbereitungen wollte er noch überprüfen.
Auf dem Holzrost im Windfang trampelte er den Schnee von seinen Filzstiefeln ab. Dann riss er die Tür auf und stapfte am »Brett« vorbei, das um diese Zeit noch geschlos-sen war. Durch die zweite Tür betrat er den Speisesaal.
Warme Luft vermischt mit Küchendunst schlug ihm ins gerötete Gesicht. Er befreite sich von den Handschuhen,
Der Chef der Versorgung, Theodor Kappner, hockte hinter einem mit Aktenordnern überladenen Schreibtisch. Der Enddreißiger zeigte ungeniert einen leichten Bauchansatz unter einem blauen Pullover. Er war jedoch groß und breit-schultrig. Der Brillenträger mit kurz geschnittenem,
brünetten Haar und sauber gestutzten Schnauzbart gab sich stets als bekennender Sachse. Im Augenblick allerdings schnaufte er nur vernehmlich.Kappner und er hatten im ersten, schlimmen Winter von Vierundachtzig erfahren, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können. So etwas verbindet.
Faber ließ sich nun, ohne zu fragen auf den einzigen noch freien Stuhl fallen. Er lockerte schnaufend den Knoten seines Schals, wobei er für einen Augenblick recht nach-denklich auf dessen dunkelblaues Wollgestrick starrte. »Mahlzeit Theo, bist du jetzt fertig mit deem Weltschmerz?«, fragte er. Als Kappner verdrossen nickte und sich dabei eine Zigarette aus der Packung klopfen wollte, legte Faber rasch seine Hand darauf. »Lass’ das bitte mal. Ich brauche dich! Gleich! Hast du deinen Fotoapparat hier?«
Kappner runzelte mit gespielter Entrüstung die Stirn und verdrehte für einen Moment die Augen. Dann griente er.
Wenige Minuten später stapfte Kappner an Fabers Seite durch das Wohnlager. Die Füße in gefütterten Lederstiefeln, den Webpelzkragen der Wattejacke bis zu den Ohren geschlossen. Gleich, als sie hinaus ins Freie traten, hatte er die Ohrenklappen seiner Schapka herunter gezerrt. »Mann! Ist das heute wieder eine Dürre!«, maulte er und drängte aus dem langen Schatten eines der Gebäude heraus.
»Na ja, in der Sonne kann man es aushalten. Es sind ja bloß fünfundzwanzig Nasse«, entgegnete Faber lapidar. Dabei deutete er auf den abgehenden Seitenweg. »Da links! Die vordere WUD in der ersten Reihe. Dort müssen wir hin!«
»Korrekt! Dort wohnen die Jungs von RIV«, bestätigte Faber seine Anfrage. Er grinste, da sich Kappners Atem bereits als zottiges Eis in dessen Schnauzer festgesetzt hatte.
Also die RIV-Truppe«, dachte der Versorger, als sie auf den Eingang der Wohnunterkunft zu schlitterten. »Reinigen- Isolieren-Versenken« – eben RIV! Und von denen soll sich einer erhängt haben?
Nun, einige von den Burschen kannte er vom Ansehen. Seit dem letzten Herbst hatte er draußen am Rohr bei seinen Kontrollfahrten zu den Stolowajas vom RIV mehrfach recht ordentliche Fotos gemacht. Zudem sah er diese eingeschwo-rene Meute auch fast jeden Abend im Speisesaal. Er traf sie in der Kneipe und ebenso am »Brett«.
Diese Sorte der »Schwarzen« gab sich recht umgänglich. Denn die hauten nicht so auf die Kacke, wie andere von »Knallgas«. Insbesondere wie jene, die ständig als die – wahren Trassenhelden aufführten. So, wie es auch in der »Jungen Welt« gern propagiert wurde.
Den kleinen, dicken Brigadier mit dem zotteligen Vollbart, der ihn an Rübezahl erinnerte, kannte er noch von der »alten Trasse« her. Von einer Baustelle bei Spola in der Ukraine. Bisher war er mit dem Burschen immer zurechtgekommen.
Sie hatten den Barackeneingang, wo sich beiderseits manns-hoch der Schnee türmte schnell erreicht. Auf dem Lattenrost vor der Tür traten sie ihre Stiefel ab, um danach durch den halbdunklen Vorraum der Wohnunterkunft zu poltern. Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dreckigen Stiefeln und Arbeitsschuhen hindurch die vor den Schuhregalen am Boden herumlagen.
Die Dienstleister reinigten alle Baracken regelmäßig nach einem abgestimmten Plan. Doch das Stiefelputzen war dabei natürlich nicht mit drin!
Zögerlich betrat Kappner nach ihm den Raum. Der gewohnte Dunst einer überheizten Unterkunft schlug ihnen entgegen. Diese edle Mischung aus ungewaschenen Socken, kaltem Zigarettenqualm, verschütteten Bier, Deo Spray und – Furz.
Faber schob hastig die Vorhänge vor den beiden Fenstern beiseite. »Ich lass’ mal kurz frische Luft rein«, presste er zwischen den Zähnen heraus.
Kappner machte einen weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Er blieb jedoch wie gebannt stehen. »Es riecht nicht nach Tod!«, beruhigte er sich leise flüsternd. »Es ist nur der übliche Gestank eines voll belegten Quartiers!« Doch etwas Unfassbares schien in diesem Raum zu sein. Das ihm ein spürbares Unbehagen bereitete. Sein Blick wanderte langsam umher. Er registrierte jedes Detail, das sich seinen Augen anbot.
Ebenso, wie in anderen Wohnunterkünften auch hatte man hier die Wände mit verschiedenen Postern bepflastert. Silly, Queen, Rennautos – ja sogar nackte Weiber aus alten Westzeitschriften boten sich dem Betrachter dar.
Auf einem kleinen Wandregal wie auch auf dem Kasten von einem Klappbett stand das gewohnte Interieur. Krimskrams den man in fast allen Unterkünften antraf. Ein kitschiger Samowar, eine Pornolampe, ein Kassettenrekorder von »Sternradio« nebst bunten Kassettenboxen.
Die drei Betten waren am Morgen natürlich nicht gemacht worden! Auf dem Tisch mitten im Raum sah er neben zwei leeren Bierflaschen einen überquellenden Aschebecher auf der gemusterten Wachstuchdecke. Dazu eine halb geleerte Flasche mit edlem »Wilthener Weinbrand«. Einige bereits an den Rändern angetrocknete Bierlachen sowie jede Menge Zigarettenasche vollendeten das Stillleben. Doch nicht das fesselte letztlich seinen Blick.
Bei dem hinteren der drei Schränke, die nebeneinander entlang der Wand standen, sperrte die rechte Tür weit auf.
Einer der üblichen, blauen Wollschals hing, zu einer Schlaufe geschlungen, über der oberen Kante der geöffneten Schranktür. Solch ein Gestrick erhielt hier im Permer Bauabschnitt jeder gleich nach der Ersteinreise. Er gehörte zur »Permkleidung« für den Wintereinsatz.
Der straff gespannte, dunkelblaue Schal führte schräg abwärts, wo er mit dem unteren Ende um den Hals eines jungen Mannes geknotet war.