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Leseprobe aus »OST-Wärts«

 

Buch 1 »OST-WÄRTS«

Kapitel 1 – Maskenball –

Westlicher Ural, Baustelle Prokowski, Samstag vor

Fasching 1986

Die Uhr zeigte kurz nach zehn an diesem Vormittag. Die Hände tief in den Taschen seiner »Ein-Strich-kein-Strich« Wattejacke vergraben stapfte Justus Faber durch das verschneite Wohnlager. Den Webpelzkragen der Jacke hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen.
Solch ein Kleidungsstück wie dieses besaßen zumeist nur Leitungskader oder auch Kumpels, die über Beziehungen verfügten. Ursprünglich wurden damit Offiziere der NVA ausstaffiert. Doch auf unbestimmten Wegen, die keiner nachvollziehen wollte, gelangte eine nicht unerhebliche Anzahl davon auch an die Trasse. Sie trugen sich bequemer und schauten vor allem besser aus als die Jacken der gewöhnlichen, allgemei-nen Permbekleidung.

Die Schapka hatte er bis auf die buschigen Augenbrauen hinab in die Stirn gezogen. So blinzelte der große, hagere Enddreißiger für einen kurzen Moment in die Sonne, die erst vor wenigen Minuten aufgegangen war. Sie stand noch dicht über dem bewaldeten Horizont am stahlblauen Him-mel, an dem sich keine Wolke befand.
Unter den Sohlen seiner Filzstiefel knirschten Eis, Schnee und dunkler Streukies. Sein Atem hatte den Schnauzbart bereits nach den wenigen Augenblicken im Freien völlig vereist. Zum wiederholten Male zog er die laufende Nase hoch.
Beim raschen Gehen schaute sich Faber prüfend nach allen Seiten um. Der angewehte Schnee reichte an den Wohnba-racken fast bis zu den Dachkanten hinauf. Nur die freige-wühlten Schneisen zu den Eingängen unterbrachen in re-gelmäßigen Abständen die aufgetürmte weiße Front. 

Mit festem Schritt bog Faber nach rechts auf den Weg ab, der direkt zum niedrigen, breit dahingestreckten Raumzel-lenbau des Versorgungsobjektes führte. An das sich wiede-rum die große Marienberger Halle unmittelbar anschloss. Davor befand sich das langgestreckte Areal des Freizeitzent-rums. Hier feierten an warmen Sommerabenden hunderte Kumpels gern bis tief in die hellen Nächte hinein.
Die vielen, selbstgezimmerten Tische und Sitzbänke konnte man derzeitig unter der dicken Schneedecke jedoch nur erahnen. Begrenzt wurde die Fläche linker Hand von der ausladenden Lagerhalle der Versorgung. In deren Aluminiumfassade glänzte grell die aufgehende Sonne. Zudem hingen dort die Reste eines roten Spruchbanners herab. Dieses Transparent, auf dem man einst einen kämpferischen Spruch lesen konn-te, hatte vermutlich der letzte Schneesturm erfolgreich zer-fetzt.
Faber schaute kurz hinüber zu dem Schandfleck, schüttelte den Kopf und schritt weiter auf den Eingang des Versorgungsobjektes zu.
Auch an der langen Front dieses Zweckbaus türmte sich der Schnee bis hoch zu den Traufkanten. Aus den Dachentlüf-tungen des Küchentraktes stieg weißer Dampf in den blan-ken Himmel empor. Es roch nach gebratenem Fleisch.
Der Windfang vor der Eingangstür war fast zur Hälfte unter den Schneemassen verborgen. Beiderseits davon wuchsen vor den Fenstern ebenso, wie entlang der angrenzenden Marienberger Halle armdicke Eiszapfen vom Dach bis in den tiefen Schnee hinab.
Faber wusste natürlich, das heute Abend in der »Marienberger« die Faschingsfeier der Baustelle stattfinden sollte. Einige der Vorbereitungen wollte er noch überprüfen.

Auf dem Holzrost im Windfang trampelte er den Schnee von seinen Filzstiefeln ab. Dann riss er die Tür auf und stapfte am »Brett« vorbei, das um diese Zeit noch geschlos-sen war. Durch die zweite Tür betrat er den Speisesaal.
Warme Luft vermischt mit Küchendunst schlug ihm ins gerötete Gesicht. Er befreite sich von den Handschuhen,
zerrte die Schapka vom Kopf und wischte sich das tauende Eis aus dem Bart.
In der hinteren Ecke des Saales, am Durchgang zur Marienberger Halle, entdeckte er einen Mitarbeiter von der Dienst-leistung. Der beendete soeben die Bodenreinigung.
Faber nickte ihm zu, ging dann zur offenen stehenden Tür der Essenausgabe hin.
Schräg vor sich erblickte er die langgestreckte Ausgabereihe.
Laut vor sich hin pfeifend stapelte dort ein vollbärtiger Koch soeben Tabletts mit gefüllten Kompottschälchen übereinander. Aus der Küche heraus schallte das Klappern von Töpfen und Pfannen. Ebenso laute Musik aus einem Kassettenre-korder.
»Mahlzeit, ist der Theo im Hause?«, rief Faber dem Koch zu.
Der blickte von seiner Arbeit auf und grinste ihn an. »Ich denke ja, Kollege Sicherheit!«, kam es zurück.
Faber nickte zum Dank. Er ging durch die offene Tür neben der Spülküche in einen langen Gang hinein, der nach hinten zu den Büros führte. Unter seinen Stiefelschritten dröhnte hohl der Fußboden der miteinander verschraubten Raumzellen. Den hatte man hier mit dunkelgrünem Linoleum belegt. Auf seinem Weg kam er an mehreren Vorbereitungsräumen und Kühlzellen vorbei. Mit einem lauten »Mahlzeit aller-seits!« grüßte er zwei junge Frauen, die gerade Konserven-dosen auspackten.
Am Ende des Ganges verhielt er seinen Schritt vor der letz-ten Tür. »Leiter Versorgungsobjekt« stand auf einem Schild-chen daneben geschrieben. Er klopfte an und ohne ein »Herein« abzuwarten, trat er ein.

Der Chef der Versorgung, Theodor Kappner, hockte hinter einem mit Aktenordnern überladenen Schreibtisch. Der Enddreißiger zeigte ungeniert einen leichten Bauchansatz unter einem blauen Pullover. Er war jedoch groß und breit-schultrig. Der Brillenträger mit kurz geschnittenem, brünetten Haar und sauber gestutzten Schnauzbart gab sich stets als bekennender Sachse. Im Augenblick allerdings schnaufte er nur vernehmlich.
Kappner gab beileibe keinen Choleriker ab. Doch soeben als Faber sein Büro betrat schmiss er wütend den Hörer auf das orangefarbene Telefon, das vor ihm auf dem Schreib-tisch stand. »Scheiße! Verdammt noch mal! Sind wir denn hier im afrikanischen Busch?«, rief er erbost aus. »Ich muss meine Betriebsleitung in Kungur anrufen. Mann! Da drehst du zuerst die vierzehn Vorwahlnummern dann noch die Rufnummer. Eine Verbindung? Nö! Jetzt geht erst mal das Warten los. Dabei berieseln sie dich die ganze Zeit im Hörer mit dieser blöden russischen Radiomusik. Und dann bricht doch wieder alles zusammen. Mensch! Die haben ’ne Raum-station, fliegen mit Raketen. Aber ein Telefonat über schlap-pe sechshundert Kilometer? Fehlanzeige!« Kappner winkte resigniert ab. Schließlich schaute er fragend zu Faber auf, wobei ein breites Grinsen sein volles Gesicht überzog.
Der Versorger kannte sein Gegenüber gut. Dessen Bürotür in einer der Baracken auf der anderen Seite des Freizeitzentrums zierte auch ein Papptäfelchen. Darauf prangte die Aufschrift »Abteilungsleiter für Sicher-heit und Arbeitsschutz des Generallieferanten«. Doch er hörte auch auf die knappe Anrede »Genosse Faber oder Kollege Sicherheit«.

Kappner und er hatten im ersten, schlimmen Winter von Vierundachtzig erfahren, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können. So etwas verbindet.
Faber ließ sich nun, ohne zu fragen auf den einzigen noch freien Stuhl fallen. Er lockerte schnaufend den Knoten seines Schals, wobei er für einen Augenblick recht nach-denklich auf dessen dunkelblaues Wollgestrick starrte. »Mahlzeit Theo, bist du jetzt fertig mit deem Weltschmerz?«, fragte er. Als Kappner verdrossen nickte und sich dabei eine Zigarette aus der Packung klopfen wollte, legte Faber rasch seine Hand darauf. »Lass’ das bitte mal. Ich brauche dich! Gleich! Hast du deinen Fotoapparat hier?«
Kappner runzelte mit gespielter Entrüstung die Stirn und verdrehte für einen Moment die Augen. Dann griente er. 
»Blöde Frage! Natürlich hab’ ich meine »Exa« immer am Mann!« Er deutete mit dem Daumen auf Kamera und Zu-behör, das hinter ihm in einem Regal lag. Faber wusste noch genau, dass sich Kappner bereits im Herbst Vierundachtzig, die »unbeschränkte Fotoerlaubnis« regelrecht erkämpft hatte. Das war wenige Wochen nach Beginn seiner Einsatzzeit im Ural. Faber selbst, damals schon der zuständige Verantwortliche des Generallieferanten hatte sie ihm ausgestellt. Er stimmte dem Antrag auch sofort zu. Denn letzten Endes brachte es Kappners Arbeit mit sich, dass er viel unterwegs war.
Seine Versorger befanden sich immer allerorten im Einsatz. Auf allen Baustellen des Standortes und zudem auch draußen am Linearen Teil. Er fuhr fast täglich dorthin mit seinem »ARO-Diesel«. Regelmäßig auch mal hunderte Ki-lometer weit über Land auf andere Standorte. Und überall passierte etwas, das man mit der Kamera festhalten musste. »Was gibt’s denn so Wichtiges zu knipsen? Hoffentlich keine nackten Mädels?«, fragte Kappner, wobei er sich hinter seinem Schreibtisch emporschraubte. »Da bekomme ich nämlich Ärger mit meiner Frau!« Faber räusperte sich, senkte Blick und Stimme. »Wir haben einen Toten! Er hat sich, auf den ersten Blick besehen, – erhängt.«

Wenige Minuten später stapfte Kappner an Fabers Seite durch das Wohnlager. Die Füße in gefütterten Lederstiefeln, den Webpelzkragen der Wattejacke bis zu den Ohren geschlossen. Gleich, als sie hinaus ins Freie traten, hatte er die Ohrenklappen seiner Schapka herunter gezerrt. »Mann! Ist das heute wieder eine Dürre!«, maulte er und drängte aus dem langen Schatten eines der Gebäude heraus.
»Na ja, in der Sonne kann man es aushalten. Es sind ja bloß fünfundzwanzig Nasse«, entgegnete Faber lapidar. Dabei deutete er auf den abgehenden Seitenweg. »Da links! Die vordere WUD in der ersten Reihe. Dort müssen wir hin!« 

»Zur Unterkunft von Knallgas?«, keuchte Kappner überrascht. Er wirkte einen Tick außer Puste vom raschen Gehen. Und obwohl er soeben etwas schnodderig übers Wetter sprach, kreisten seine Gedanken um Fabers Ankündigung. Die in ihm sogleich ein mulmiges Gefühl ausgelöst hatte.

»Korrekt! Dort wohnen die Jungs von RIV«, bestätigte Faber seine Anfrage. Er grinste, da sich Kappners Atem bereits als zottiges Eis in dessen Schnauzer festgesetzt hatte.
Also die RIV-Truppe«, dachte der Versorger, als sie auf den Eingang der Wohnunterkunft zu schlitterten. »Reinigen- Isolieren-Versenken« – eben RIV! Und von denen soll sich einer erhängt haben?
Nun, einige von den Burschen kannte er vom Ansehen. Seit dem letzten Herbst hatte er draußen am Rohr bei seinen Kontrollfahrten zu den Stolowajas vom RIV mehrfach recht ordentliche Fotos gemacht. Zudem sah er diese eingeschwo-rene Meute auch fast jeden Abend im Speisesaal. Er traf sie in der Kneipe und ebenso am »Brett«.
Diese Sorte der »Schwarzen« gab sich recht umgänglich. Denn die hauten nicht so auf die Kacke, wie andere von »Knallgas«. Insbesondere wie jene, die ständig als die – wahren Trassenhelden aufführten. So, wie es auch in der »Jungen Welt« gern propagiert wurde.
Den kleinen, dicken Brigadier mit dem zotteligen Vollbart, der ihn an Rübezahl erinnerte, kannte er noch von der »alten Trasse« her. Von einer Baustelle bei Spola in der Ukraine. Bisher war er mit dem Burschen immer zurechtgekommen.

Sie hatten den Barackeneingang, wo sich beiderseits manns-hoch der Schnee türmte schnell erreicht. Auf dem Lattenrost vor der Tür traten sie ihre Stiefel ab, um danach durch den halbdunklen Vorraum der Wohnunterkunft zu poltern. Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dreckigen Stiefeln und Arbeitsschuhen hindurch die vor den Schuhregalen am Boden herumlagen.
Die Dienstleister reinigten alle Baracken regelmäßig nach einem abgestimmten Plan. Doch das Stiefelputzen war dabei natürlich nicht mit drin!
Der chaotische Anblick von verdrecktem Schuhwerk bot sich daher mehr oder minder ausgeprägt auch in fast allen anderen Wohnunterkünften vom Typ Dölbau. Dabei war es völlig egal, welches Gewerk dort gerade wohnte. Schlamm und Moder begleiteten alle gleichermaßen übers Jahr. Und wer putzt schon gerne jeden Tag seine versifften Stiefel?
Ihre Sohlen lärmten auf dem blanken Kunststoffbelag der Raumzellen. Faber ging zielstrebig den Flur zum linken hinteren Zimmer voran. Als der Mann für die Sicherheit holte den passenden Schlüssel aus seiner Jackentasche. Mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Versorgungschef schloss er die Tür auf.

Zögerlich betrat Kappner nach ihm den Raum. Der gewohnte Dunst einer überheizten Unterkunft schlug ihnen entgegen. Diese edle Mischung aus ungewaschenen Socken, kaltem Zigarettenqualm, verschütteten Bier, Deo Spray und – Furz.
Faber schob hastig die Vorhänge vor den beiden Fenstern beiseite. »Ich lass’ mal kurz frische Luft rein«, presste er zwischen den Zähnen heraus.
Kappner machte einen weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Er blieb jedoch wie gebannt stehen. »Es riecht nicht nach Tod!«, beruhigte er sich leise flüsternd. »Es ist nur der übliche Gestank eines voll belegten Quartiers!« Doch etwas Unfassbares schien in diesem Raum zu sein. Das ihm ein spürbares Unbehagen bereitete. Sein Blick wanderte langsam umher. Er registrierte jedes Detail, das sich seinen Augen anbot.
Ebenso, wie in anderen Wohnunterkünften auch hatte man hier die Wände mit verschiedenen Postern bepflastert. Silly, Queen, Rennautos – ja sogar nackte Weiber aus alten Westzeitschriften boten sich dem Betrachter dar.
Auf einem kleinen Wandregal wie auch auf dem Kasten von einem Klappbett stand das gewohnte Interieur. Krimskrams den man in fast allen Unterkünften antraf. Ein kitschiger Samowar, eine Pornolampe, ein Kassettenrekorder von »Sternradio« nebst bunten Kassettenboxen. 
Aber auch eine kleine sowjetische Kaffeemaschine mit angeschmortem Gehäuse.

Die drei Betten waren am Morgen natürlich nicht gemacht worden! Auf dem Tisch mitten im Raum sah er neben zwei leeren Bierflaschen einen überquellenden Aschebecher auf der gemusterten Wachstuchdecke. Dazu eine halb geleerte Flasche mit edlem »Wilthener Weinbrand«. Einige bereits an den Rändern angetrocknete Bierlachen sowie jede Menge Zigarettenasche vollendeten das Stillleben. Doch nicht das fesselte letztlich seinen Blick.
Bei dem hinteren der drei Schränke, die nebeneinander entlang der Wand standen, sperrte die rechte Tür weit auf.
Einer der üblichen, blauen Wollschals hing, zu einer Schlaufe geschlungen, über der oberen Kante der geöffneten Schranktür. Solch ein Gestrick erhielt hier im Permer Bauabschnitt jeder gleich nach der Ersteinreise. Er gehörte zur »Permkleidung« für den Wintereinsatz.
Der straff gespannte, dunkelblaue Schal führte schräg abwärts, wo er mit dem unteren Ende um den Hals eines jungen Mannes geknotet war.


 
Drymat
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